Enthüllungen zu Mitternacht auf Netflix: Galaktische Animationsserie (2024)

Wenn man etwas, von dem die Welt aktuell nicht noch mehr braucht (Podcasts), mit etwas zusammenwürfelt, das die Welt stets braucht (kluge Trickfilmserien), dann kommt manchmal Gutes dabei heraus. Oder, im Fall von „The Midnight Gospel“ (deutscher Titel: „Enthüllungen zu Mitternacht“), etwas, das von phänomenaler, fast kosmischer Substanz ist. Etwas, das all unsere Hirnareale anspricht und die Synapsen zum Glühen bringt, als hätte jemand von außen den tausendblättrigen Lotus, unser Sahasrara-Chakra, angeknipst wie einen Nebelscheinwerfer.

Wer zufällig auf diese nächtlichen Enthüllungen stößt und nichts vom Konzept des Formats weiß, dem werden die Sehgewohnheiten durcheinandergerührt. Der Ausnahme-Animator Pendleton Ward, Schöpfer der großartigen Serie „Adventure Time“, hat sich die Interviews der „The Duncan Trussell Family Hour“, des Podcasts des amerikanischen Comedians Duncan Trussell, vorgenommen. Auf ihrer Grundlage hat er halbstündige Trickfilmabenteuer geschaffen, die trotz ihres einfachen Stils die Art und Weise, wie in Trickfilmen und über sie nachgedacht wird, auf ein neues Niveau hebt. Es geht um Leben und Tod, Wahrheit und Lüge, alles dazwischen und darüber hinaus.

Diese Serie schafft etwas, das kaum je eine Serie je schafft: eine Ahnung von existentieller Hoffnung und Zuversicht; den ersten Ton eines brummenden Vertrauens, dass irgendwo in diesem Chaos (und in dem anderer Menschen) eine Ordnung ist, die zu einem selbst gehört – auf dass sie einen findet, damit man sich von ihr befreien kann. So ungefähr.

Wir folgen – und müssen uns höllisch anstrengen, das zu tun; „The Midnight Gospel“ verlangt aktive Rezeption – dem Spacecaster (einer Art galaktischem Youtuber) Clancy Gilroy. Er lebt in einer Welt, die „Chromatische Schleife“ heißt. In ihr nutzen sogenannte Simulationsfarmer illegale Computer, um Technologie aus den damit simulierten Multiversen zu ernten. Der Simulationscomputer sieht aus wie ein überdimensionierter, abstrakter weiblicher Schoß. Trotzdem wirkt nichts, was mit ihm geschieht, je wirklich anzüglich. Der Computer-Schoß generiert nun Welten, in die Clancy mit seinen Kameradrohnen reist, um Interviewpartner zu finden. Sie sagen Dinge wie: „Wenn das Universum ein Delphin wäre, wären unsere Körper Fischernetze.“ Am Ende kommt es eigentlich immer zum Zusammenbruch der bereisten Welt, aus der sich Clancy jedes Mal ein paar Schuhe als Andenken mitnimmt.

In „The Midnight Gospel“ ist das, was wir sehen – Disco-Zombie-Apokalypse, ein kabbalistischer Lebensbaum (Sephiroth) auf einer Wasserrutsche, die Planetenwerdung einer Seele –, nur der Hintergrund für das, was wir hören. Mal korrespondiert beides auf unnachahmliche Weise, so dass man sich fragt, wie sich solche Gleichzeitigkeit erzeugen lässt. Mal lösen sich Dialog und Gezeigtes scheinbar weit voneinander. Es sind im besten Sinne philosophische Gespräche, die Animation bildet das Eingangstor. Sie lädt ein, sie hilft verstehen. Wie, das ist schwer zu greifen: Es ist, als schärfe die Beschäftigung des einen Sinnes (Sehen) den anderen (Hören), damit der erste den anderen nicht ablenkt, weil ihm langweilig ist. So wird der unbeteiligte Zuschauer zu einem beteiligten Zuhörer.

Irgendwann dringen die Fragen von tief drinnen an die Oberfläche unseres Bewusstseins. Die amerikanische Schriftstellerin Anne Lamott manifestiert sich als Hirsch-Hund und sagt, was gegen Schreibblockaden hilft: „Wut und Scham“. Und schon fragen wir uns, was das für eine Welt sein muss, in der das, was wir lieben, uns nicht mehr gelingt, sobald wir gesund und glücklich sind. Plötzlich ist all das Dargestellte viel weniger verrückt. Man darf allerdings keine Angst vor dem haben, was sich im ersten Moment nach esoterischem Mumpitz anhört. Tatsächlich geht vieles von dem, was Trussell ursprünglich mit seinen Interviewpartnern verhandelt hat, weit über den üblichen Kommerzspiritualismus der Achtsamkeitsübungs-Apps und Meditationsvideos hinaus. Und wenn es mal zu weitschweifig wird, ist zumindest der Interviewpartner eine Herausforderung. Zum Beispiel Damien Echols, einer der drei als „West Memphis Three“ bekannten Männer, die 1994 wegen des Mordes an drei Kindern zu langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden – Echols zum Tode. Er tritt als Darryl the Fish auf, eine Art Nemo mit Goldfischglas-Kopf auf einem Roboterkörper, der sein Unterseeboot mit einer Besatzung von Katzen lenkt.

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Mit ihm, den die Anklage mit satanischen Ritualen in Verbindung brachte, spricht Trussell/Clancy über das Verhältnis von Meditation und Magie, den Okkultisten Aleister Crowley, östliche Erleuchtungspraktiken und darüber, dass orale Traditionen daher kommen, dass Magie stets durch die Stimme übertragen werde. Dann, ganz unvermittelt, spricht Echols – von dem man zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht weiß, wer er ist – von seiner Herkunft aus dem „pure white Trash from Arkansas“, und in der Serie kollabiert alles Gezeigte in einer gewaltigen Prügelei zweier Adepten (um eine Frau).

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In der anrührendsten Folge begegnet Clancy seiner Mutter, die in unserer Welt Deneen Fendig, Duncan Trussells Mutter ist. Mit ihr spricht er über seine Geburt, ihre tödliche Krankheit (metastasierter Brustkrebs) und den Tod als „bestem Lehrmeister des Lebens“. Auch visuell ist diese Folge ein Ritt auf einer sich selbst gebärenden Schlange: Wir dringen zum Kern dieser Serie vor. Spiritualität, sagt die Mutter, diene dazu, das Wirkliche vom Unwirklichen zu unterscheiden. Clancy stellt nun die Frage, ob man sich Spiritualität leisten können muss: „Was machen die, denen es viel schlechter geht, die kaum Geld haben, sich Brot zu kaufen, und keine Zeit, sich um so etwas Gedanken zu machen?“ Sich einmal bewusst von seinem inneren Gedankenkarussell zu lösen koste keinen Penny, sagt seine Mutter. Das kann jeder. Jedem tut es gut. Wie? Man beginnt damit, sich auf das Innere seiner Arme und Beine zu konzentrieren, bis man sie simultan fühlt. Dann betrachtet man die Dinge, die vor dem geistigen Auge auftauchen – und horcht. Was sieht Clancy? „Eine Biene mit tausend Augen und Hörnern, die einen Dolch hält, der mit Pentagrammen verziert ist.“ Beide müssen lachen. Erkenntnis: Es ist am besten, „auf dem Schlachtfeld der Liebe“ zu sterben, und wer einmal dem Tod begegnet, darf weinen.

The Midnight Gospel, auf Netflix abrufbar.

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